Wenn man die Veränderungen im Einzelhandel beschreiben soll, dann hilft ein Blick auf eine Auswertung der Suchanfragen bei Google von Anfang Oktober 2021. Damals stand der nächste coronabedingte Lockdown kurz bevor – und die Zahl der Suchanfragen in Deutschland mit dem Betriff „Online-Lebensmittelhandel“ waren für einen Tag lang gigantisch, etwa einhundert Mal mehr als sonst.
Lebensmittel im Internet kaufen? Das war in Deutschland jahrelang eine Angelegenheit in der Nische. Zwischen 1,0 und 1,5 Prozent Marktanteil hatte dieses Segment lange Zeit. Kein Wunder, denn nirgendwo auf der Welt ist das Netz mit Läden so dicht wie hierzulande. Im Schnitt kann jeder Verbraucher innerhalb von fünf Fahrminuten einen Nahversorger erreichen. Doch die Pandemie veränderte das Einkaufsverhalten drastisch. Die Menschen blieben daheim, sie arbeiteten daheim und sie mieden das Gedränge in den wenigen geöffneten Geschäften. Also kauften sie auch ihre Lebensmittel online ein.
Neue Bringdienste kämpfen um Marktanteile
Es gab in diesem Bereich zwar kein dramatisch verändertes Kaufverhalten, aber in das Segment ist seit der Pandemie Schwung gekommen. Neue Lieferdienste versuchen, von einem großen Markt zu profitieren. 2021 wurden in Deutschland rund 185 Milliarden Euro im reinen Lebensmittelhandel (ohne Drogeriewaren) umgesetzt. Gorillas, Flink, Getir, Knuspr heißen vier Anbieter, die neuerdings um Marktanteile kämpfen, wenngleich sie vorerst in den Metropolen um Kunden buhlen.
Diese Start-ups mögen kleine, mit viel Risikokapital ausgestattete Unternehmen sein, doch sie beschreiben einen sich verändernden Markt – hin zu immer mehr digitalem Einkaufen. Im Jahr 2021 setzte der deutsche Einzelhandel gemäß Handelsverband Deutschland (HDE) insgesamt 587,8 Milliarden Euro um, davon entfielen 86,7 Milliarden Euro auf den Onlinehandel – das war ein Plus von 19,2 Prozent. Kein Wunder, auch 2021 gab es lockdownbedingte Ladenschließungen, weswegen die Verbraucher auf die Anbieter im Internet ausgewichen sind. Ein Vergleich verdeutlicht aber die strukturelle Veränderung in der Branche: Im Jahr 2012 lag dem HDE zufolge das Marktvolumen des Onlinehandels noch bei 28 Milliarden Euro.
Trotz „neuer Normalität“: Die Kunden kommen nicht mehr in die Läden zurück
Und im Frühjahr 2022 lässt sich feststellen: Die Menschen kommen trotz „neuer Normalität“ nicht mehr in dem Maß in die Läden oder Innenstädte zurück wie vor der Pandemie. Der HDE geht davon aus, dass die Passantenfrequenzen aus dem Jahr 2019 nie wieder erreicht werden. Der Strukturwandel hin zum Onlinewandel fand zwar schon vor der Pandemie statt – wurde aber durch diese forciert. Das betrifft vor allem bisher starke Handelsbranchen wie den Textilhandel, dessen Umsätze heute schon bis zu 50 Prozent im Internet erzielt werden. Tendenz steigend: Die Folge: Internationale Filialisten wie H&M und Primark schließen Filialen, Orsay gibt sogar das komplette Ladennetz in Deutschland auf – das sind 130 Filialen. Hugo Boss will im eigenen Einzelhandel das digitale Geschäft forcieren, was ebenfalls auf Kosten der Läden gehen wird.
Aber auch andere Branchen müssen der neuen Lage Tribut zollen. Beispiel ist der Büroartikelanbieter Staples, der insolvent ging und alle fünfzig deutschen Läden schließt. Die Warenhäuser von Galeria Karstadt Kaufhof kämpfen gegen ihren rasanten Bedeutungsverlust. Wie es um die Zukunft der Shoppingcenter bestellt ist, darüber gibt eine Prognose von KPMG Real Estate Auskunft: Demnach sind 50 Prozent der Objekte mittel- und langfristig nicht mehr oder nur noch untergeordnet für den Einzelhandel zu nutzen. Und Dr. Johannes Berentzen, Geschäftsführer der BBE Handelsberatung, glaubt: „Bis zum Jahr 2030 werden in Deutschland 15 bis 20 Millionen Quadratmeter der aktuellen Verkaufsfläche wegfallen.“
Kampf gegen die Verödung der Innenstädte
Das alles hat zur Folge, dass Innenstädten die Verödung droht. Das gilt weniger für die Top-Lagen in den Top-Städten, sondern für die Mittel- und Kleinstädte. Bündnisse aus Immobilieneigentümern, Kommunalpolitik und Händlern sind notwendig. In Objekten, in denen früher nur Handel stattfand, wird es künftig Mischnutzungen geben mit Büros, Dienstleistungen, Gesundheitsangeboten und Coworkingflächen.
Und die Händler? Sie müssen mit hochwertigem Ladenbau, kuratiertem Sortiment, erstklassigem Service und Abwechslung auf der Fläche das bieten, was die schier unendliche Warenwelt des Internethandels nicht bieten kann. Emotionen und Erlebnisse sind zwei Schlagworte. Zudem müssen die Unternehmen sämtliche digitalen Angebote nutzen, wie Bringdienste, Social-Media-Aktivitäten oder Verkäufe über Plattformen.
Trotzdem wird der Strukturwandel in der Branche weitergehen, denn nicht jeder Händler kann mit den neuen Anforderungen Schritt halten. Der Wandel hin zum Onlinehandel ist wiederum einer der Treiber der Logistikbranche. Wenn immer mehr Verbraucher im Internet bestellen, bedarf es immer mehr Lagerflächen und Verteilzentren. Denn je mehr bestellt wird, wird auch von den Kunden zurückgeschickt. Das Management von Retouren ist eine enorm anspruchsvolle logistische Aufgabe.
Der Onlinehandel treibt den Logistikmarkt
2021 wurde in Deutschland nach übereinstimmenden Analysen relevanter Immobiliendienstleister mit etwas mehr als acht Milliarden Quadratmetern ein neuer Rekord erzielt beim Umsatz mit Logistikflächen. Wahrscheinlich wird dieser 2022 gebrochen werden. Denn der HDE prognostiziert für das laufende Jahr einen erneuten Anstieg des Umsatzes im Onlinehandel: Mit 97,4 Milliarden Euro wäre damit bald die 100-Milliarden-Grenze erreicht. Umso wichtiger werden hochwertige Logistikdienstleistungen, sowohl bei Flächenkapazitäten als auch bei der Belieferung der Kunden.
Was für die großen Marktteilnehmer wie Amazon und Zalando relevant ist, gilt auch für die kleinen Neulinge aus dem Lebensmittelhandel, die vor allem kleine, innenstadtnahe Flächen suchen: „Handel ist Wandel“ lautet der geflügelte Satz der Branche – und nie war der Wandel spürbarer als jetzt.