Konsumgüterbranche: Früher ging es um den praktischen Nutzen, heute um das Lebensgefühl
Nie zuvor hatten Verbraucher eine größere Auswahl an Konsumgütern als heute. Nicht nur die traditionellen Markenhersteller wie etwa aus der Möbel- oder Bekleidungsindustrie oder auch aus der Nahrungsmittelproduktion überbieten sich mit neuen Produkten. Die Vertriebsmöglichkeiten des Internets erlauben längst auch vielen Start-ups, neue Produkte zu entwickeln, herzustellen und selbstständig, also ohne Einbeziehung des Einzelhandels, zu vertreiben. Ein Beispiel ist das Unternehmen KW-Commerce (Berlin), das jährlich an acht Millionen Kunden etwa 23.000 verschiedene Produkte verkauft – von Handyhüllen bis hin zu Töpfen.
In dem Fall spricht man von Gebrauchsgütern. Diese bezeichnen alles, was über einen längeren Zeitraum genutzt wird. Im Handel auch Hartware genannt. Verbrauchsgüter wiederum sind etwa Lebensmittel, welche nach einmaliger Nutzung aufgebraucht sind.
„Digitale Konsumenten“ und gesättigte Märkte
In beiden Fällen sind die Märkte gesättigt. Die Verbraucher haben die Qual der Wahl, die Transparenz des Internets erlaubt jedoch die Übersicht über Produktangebot, -qualität und
-preise. Die Beratungsgesellschaft KPMG nennt den modernen Kunden einen „digitalen Konsumenten“. Daher müsse die Industrie agil und innovativ sein sowie technologiebasierte und vollintegrierte Omnichannel-Businessmodelle mit einer klaren Kundenfokussierung entwickeln. Dazu gehört zwingend das Sammeln und Auswerten von Kundendaten, um Trends und Einkaufsvorlieben auszuloten.
Diese Hersteller-Handel-Kunden-Beziehung unterscheidet sich deutlich zu der aus den siebziger Jahren. Damals standen vor allem Bedarfsdeckung und hoher Produktnutzen im Vordergrund. Das Leben sollte erleichtert werden, etwa durch eine leistungsfähigere Waschmaschine oder durch schnell zubereitete Fertiggerichte. Der lokale Einzelhandel war nahezu die einzige Beschaffungsquelle; entweder gingen die Kunden zum Fachhandel oder in ein Warenhaus vor Ort oder in der Nähe. Alternativ konnten sie auch bei deutschen Versandhäusern wie Quelle und Neckermann Ware im Katalog auswählen und bestellen. Die Auswahl war im Vergleich zu heute überschaubar und geprägt von den traditionellen Markenherstellern, deren Produktversprechen Solidität und Zuverlässigkeit sowie Vertrauen in die Marke waren.
Produktion und Lieferketten sind heutzutage global
Die Produktion fand bis auf wenige Ausnahmen in Deutschland statt. Grundig baute Fernsehapparate in Nürnberg, Adidas stellte seine Turnschuhe in Herzogenaurach her. Die Lebensmittelproduktion und -versorgung war national, in vielen Bereichen regional. Dass beispielsweise Bier über Hunderte Kilometer durch Deutschland transportiert wurde – wie es heutzutage der Fall ist –, war unüblich. Folglich gab es andere Logistikketten als heute. Das System hatte kleinere Radien und bestand industrieseitig aus umfangreicher Lagerhaltung. Das Konzept der Just-in-time-Belieferung war noch nicht entwickelt worden.
Das hat sich inzwischen drastisch verändert. Heutzutage werden Fernsehapparate in Japan und China hergestellt und per Schiff nach Europa transportiert. Volkswagen lässt in Spanien fertigen, Bier kommt aus Australien, Fleisch aus Argentinien. Statt mit dem Festnetztelefon kommunizieren die Menschen mit Smartphones, die ebenfalls in Asien produziert werden. Bei der Bekleidung spielt Deutschland als Herstellerland kaum noch eine Rolle, vor allem die internationalen vertikalen Systeme (Hersteller, die Marketing und Verkauf an Endkunden in einer Hand haben) dominieren den Markt: H&M, Zara, Esprit, Primark, Superdry. Anstatt wie früher zweimal im Jahr neue Kollektionen anzubieten (Herbst und Winter), gibt es heutzutage bis zu acht verschiedene Kollektionen im Jahr. Zudem treten traditionelle Hersteller längst als Einzelhändler auf, wie etwa Boss, Adidas oder WMF.
Und: Konsum soll in der heutigen Zeit nicht nur einem praktischen Nutzen dienen, sondern Lebensgefühl und Identität bieten.
Dieses drastisch veränderte Produktions- und Einkaufsverhalten hat zur Anpassung der Logistikketten gezwungen. Der Güterverkehr ist längst global und bedarf großer internationaler Drehkreuze, wie es etwa der Hub Leipzig des Logistikers DHL darstellt. Die Warenversorgung ist trotz der großen Entfernungen rasend schnell. Der Kunde ist von ständiger Verfügbarkeit verwöhnt, er kann dank des Internets und mobiler Endgeräte nahezu jederzeit und von jedem Ort in Deutschland aus einkaufen. Wer als Hersteller und Händler dieses Tempo nicht mitgehen kann, wird es schwer haben. Wegen der weltweiten Verfügbarkeit von Waren, die es in jeder Stadt gibt, wächst jedoch bei den Konsumenten gleichzeitig der Wunsch nach Originalität, Individualität und Regionalität.
Die Unternehmensberatung McKinsey hat für das Konsumgütergeschäft zwölf Wachstumstrends ausgemacht, die durch die Corona-Pandemie noch verstärkt worden sind:
- Der Alltag der Verbraucher ist digital wie noch nie: Der E-Commerce sowie Social Media bestimmen Einkauf und Kommunikation.
- Preissensibilität: COVID-19 dürfte eine deutlich schwerere Rezession auslösen als die Finanzkrise von 2008/09. Mehr als ein Drittel der deutschen Konsumenten gibt Geld mit mehr Bedacht aus, ein Viertel will beim Einkaufen sparen.
- Millennial- und Gen-Z-Effekt: Vor allem jüngere Verbraucher suchen authentische Marken, die sich von der Masse abheben. Gemäß einer Umfrage von McKinsey neigen Millennials viermal häufiger als „Babyboomer“ (Jahrgänge der 1950er und 1960er Jahre) dazu, nicht die Produkte großer Lebensmittelkonzerne zu kaufen und neue Food-Marken fast sechsmal so oft für besser oder innovativer zu halten.
- Bewusstes Essen und Leben: Über alle Altersgruppen hinweg achten Konsumenten verstärkt auf ihr individuelles Wohlbefinden. Sie präferieren sinnstiftende Marken, die ihnen helfen, persönliche Ziele zu erreichen und sich gesünder zu ernähren.
- Boom kleiner Marken: Den Trend hin zu mehr Bewusstheit haben vor allem Start-ups erfolgreich aufgegriffen. 18 Milliarden US-Dollar Risikokapital flossen in den vergangenen fünf Jahren in kleine Marken. Die Coronakrise werde diesen Trend nicht dauerhaft bremsen.
- Online-Marktplätze: Sie generieren mittlerweile 65 Prozent des Wachstums der 150 führenden Einzelhändler weltweit. Während der Lockdowns haben sie vor allem im Lebensmittelsegment noch einmal stark zugelegt.
- Siegeszug der Discounter: Aldi und Lidl wuchsen zwischen 2013 und 2018 um etwa sieben Prozent pro Jahr – einsame Spitze im stationären Handel. Und wenn die Discounter in neue Märkte einsteigen, peilen sie in der Regel einen Marktanteil von mindestens 20 Prozent an.
- Traditioneller Handel unter Druck: Die Marktmacht der Discounter und der Aufstieg des Onlinehandels setzen den stationären Konsumgüter- und Lebensmittelhandel unter massiven Wettbewerbsdruck. Weil die Händler viel Geld in neue Formate und Kanäle investieren müssen, verschärfen sie zudem die Preisverhandlungen mit Herstellern.
- Gastgewerbe im Umbruch: Die Pandemie hatte den Gaststätten- und Hotelleriemarkt für Monate zum Erliegen gebracht. Bereits vor der Coronakrise erlebten Lieferdienst-Aggregatoren einen Wachstumsschub und seither sogar einen regelrechten Boom. Gemeinsam mit den Konsumgüterherstellern wird sich das Gastgewerbe mit digitalen Geschäftsmodellen neu erfinden müssen.
- Kampf um Asiens Schwellenländer: Die asiatischen Märkte wachsen deutlich schneller als die anderen Regionen der Welt: Sie werden bis 2029 etwa die Hälfte des weltweiten privaten Konsums ausmachen.
- 11. Gewinnerwartungen aktivistischer Investoren: Von 2016 bis 2019 führten aktivistische Investoren jährlich mehr als 110 Kampagnen im Konsumgütersektor durch – ein Trend, der bis heute anhält und die Unternehmenslenker weiter herausfordert.
- 12. Wettstreit um die besten Deals: Nach der Coronakrise wird der Kampf um Deals weiter zunehmen. Der Grund: Große Vermögenswerte werden knapp und die Private-Equity-Gesellschaften müssen circa 1,6 Billionen US-Dollar an Investitionskapital unterbringen.