Pflanzendünger, Corona-Impfmittel und Bio-Treibstoff: Ohne die Chemie- und Pharmabranche läuft in der deutschen Wirtschaft nicht viel
Düngemittel, Hustensäfte, Hautcremes, Kunststoffe – und auch Impfstoffe. Die Produktpalette der chemisch-pharmazeutischen Industrie ist enorm und ist gleichermaßen an Geschäfts- wie Endkunden gerichtet. Hierbei gibt es Verknüpfungen mit dem weiterverarbeitenden Gewerbe, z.B. mit der Kunststoffindustrie, dem Automobilbau und der Baubranche. Die chemisch-pharmazeutische Industrie zählt zur drittgrößten Industriebranche in Deutschland und erzielte 2021 einen Gesamtumsatz von rund 225 Milliarden Euro – so viel wie nie zuvor.
In der öffentlichen Wahrnehmung dominieren vor allem die im DAX vertretenden Konzerne das Bild der Branche. Dazu gehören unter anderem BASF (Sitz in Ludwigshafen), Bayer (Leverkusen), Merck (Darmstadt) und Fresenius Medical Care (Bad Homburg). Doch gut 90 Prozent der etwas mehr als 2.000 Unternehmen sind mittelständisch geprägt und haben 500 Beschäftigte und weniger.
Biontech ist 2021 der Star der Pharmabranche
Die deutschen Chemie- und Pharmabetriebe stehen für die Entwicklung von Weltprodukten, wie etwa dem Schmerzmittel Aspirin (Bayer) oder dem Kunststoff Styropor (BASF). Das aktuell populärste Unternehmen der Branche ist Biontech als Entwickler des Corona-Impfstoffs Comirnaty, dem ersten weltweit zugelassenen Vakzin gegen COVID-19. Damit hatte das Mainzer Pharmaunternehmen 2021 etwa 17 Milliarden Euro erlöst und damit rund 0,5 Prozent zum deutschen Bruttoinlandsprodukt (BIP) beigetragen. So relevant war lange kein deutsches Einzelunternehmen mehr. Ein wichtiger Grund dafür: Biontech bezieht wenig Vorprodukte aus dem Ausland und lässt zudem in Deutschland (Marburg) produzieren – weswegen die Wertschöpfung zum großen Teil im Inland erfolgt, was die enorme Auswirkung aufs BIP erklärt.
Energiekosten belasten die Branche enorm
Biontech steht für die traditionelle Forschungs- und Innovationskraft der deutschen Chemie- und Pharmabranche. Diese Stärke wird 2022 besonders gefragt sein, denn der Branche steht ein schwieriges Jahr bevor. Aufgrund der Corona-Pandemie und nun des Ukraine-Kriegs sind aufgrund von gerissenen Produktions- und Lieferketten Rohstoff- und Energiekosten stark angestiegen – der Verband der Chemischen Industrie (VCI) gibt deswegen aktuell keine Umsatzprognosen für das laufende Jahr ab. Etwas mehr als die Hälfte der Unternehmen erwartet sowohl eine rückläufige Produktion als auch Umsätze, viele Großbetriebe erwarten auf dem Inlandsmarkt weniger Wachstum.
Gerade die unsichere Zukunft der Gasversorgung belastet die Chemiebranche, die einer der größten Verbraucher dieses Energieträgers ist. Ohne Gas würde in der Chemieindustrie (fast) nichts laufen. Gut drei Viertel (99,3 Terawattstunden) des jährlichen Gasverbrauchs verschlingt die Energiegewinnung (Strom, Dampf). Andererseits ist Gas auch als Rohstoff für etliche Produkte notwendig, beispielsweise in Verbindung mit Wasserstoff für die Basischemikalie Ammoniak, wovon jährlich 2,5 Millionen Tonnen hergestellt werden. Düngemittel und viele medizinische Produkte wiederum sind bei der Produktion auf den Ausgangsstoff Ammoniak angewiesen.
Stabilität von Wertschöpfungs- und Lieferketten in Gefahr
Und wenn die Energiekosten für die Chemie- und Pharmabranche ansteigen, wirkt sich das auch auf fast alle anderen Branchen aus, die auf chemisch-pharmazeutische Produkte angewiesen sind, wie Landwirtschaft, Ernährung, Automobil, Kosmetik, Hygiene, Bauwesen, Verpackung und Elektronik. Dieses System benötigt stabile Wertschöpfungs- und Lieferketten.
Die Branche fordert daher so schnell wie möglich günstigen „grünen“ Strom, um den Anforderungen für Digitalisierung, Klimaneutralität und Kreislaufwirtschaft gerecht zu werden. Notwendig dafür sind auch die Produktion, der Transport und die Lagerung von Wasserstoff.
Bei den Megatrends sind Chemie- und Pharmaindustrie Schlüsselbranchen
Die Chemie- und Pharmaindustrie spielt eine große Rolle bei drei von sieben sogenannten Megatrends, welche die Beratungsgesellschaft EY schon 2020, also im ersten Jahr der Corona-Pandemie, in einer großen Studie ermittelt hat: Dekarbonisierung, Mikrobiome (Gesamtheit aller Mikroorganismen) und synthetische Biologie. Es geht dabei auch um das Abfedern der Folgen des Klimawandels, die besonders die Landwirtschaft und dort vor allem Entwicklungsländer betreffen. Mikroorganismen, die Enzyme freisetzen, sorgen dafür, dass Pflanzen leichter Phosphor aus dem Dünger aufnehmen können. Andererseits ist es bereits gelungen, Mikroben gentechnisch so zu modifizieren, dass die Pflanzen den wichtigen Nährstoff Stickstoff besser speichern können.
Synthetische Biologie wiederum meint, biologische Systeme im Labor so „nachzubauen“, dass sie einen Nutzen für die Gesellschaft erbringen, wie es EY formuliert. Es geht hierbei unter anderem um Bio-Treibstoffe, künstlich gezüchtete Lederschuhe sowie Medizinpräparate. Ohne synthetische Biologie wäre keine Entwicklung des COVID-19-Impfstoffs möglich gewesen.
Die Chemie- und Pharmaindustrie ist demnach eine Schlüsselbranche bei der Bewältigung der Zukunftsaufgaben, die im Zuge des Wandlungsprozesses der Welt zu erledigen sind. Der Apple-Gründer Steve Jobs hatte schon 2011 kurz vor seinem Tod vorhergesagt: „Die größten Innovationen des 21. Jahrhunderts werden aus der Schnittstelle von Biologie und Technologie hervorgehen. Hier beginnt eine neue Ära.“